Analyse der Daten des ATLAS-Experiments
Vermessung des Higgs-Bosons
Während der vergangenen Jahre haben Physiker der beiden Experimente ATLAS und CMS am Large Hadron Collider den kompletten Datensatz, der in den Jahren 2010 bis 2012 aufge-zeichnet wurde, ausgewertet und abschließende Ergebnisse publiziert. Aus den Messungen können wichtige Eigenschaften des entdeckten Teilchens bestimmt und ihre Übereinstimmung mit den Vorhersagen des Standardmodells der Teilchenphysik überprüft werden. Passt das neue Teilchen in das Standardmodell? Oder zeigt es exotische, abweichende Eigenschaften, wie sie in Erweiterungen, z.B. in Form von nicht-elementaren, zusammen¬gesetzten Higgs-Bosonen vorhergesagt werden? Andere Modelle sagen die Existenz weiterer Higgs-Bosonen voraus.
Unsere Arbeitsgruppe ist an der präzisen Vermessung der Eigenschaften des Higgs-Bosons über die Untersuchung von drei wichtigen Zerfallskanälen beteiligt: am Zerfall in W- Bosonen, H → WW* lνlν, sowie an der Untersuchung der Zerfälle in schwere Fermionen der dritten Generation, H → ττ und H → bb. Die gemessenen Produktionsraten in diesen Endzuständen für die einzelnen Produktionsprozesse am LHC (Gluon-Fusion, Vektorbosonfusion, assoziierte Produktion von Higgs-Bosonen mit W- und Z-Bosonen oder tt-Paaren) liefern wichtige Informationen, aus denen z.B. die Kopplungsstärken des Higgs-Bosons an die Teilchen des Standardmodells bestimmt werden können. Hierzu werden für die einzelnen Zerfallskanäle Werte μ = σ/σSM bestimmt, die das Verhältnis der gemessenen Wirkungsquerschnitte σ zu den im Standardmodell erwarteten Werten σSM angeben.
Ein im ATLAS-Experiment gemessenes Ereignis mit einem Elektron (Energiedeposition in rot, Spur im inneren Detektor in gelb), einem Myon (Spur im inneren Detektor und im äußeren Myonspektrometer in blau) und „fehlender transversaler Energie“ (MET). Dieses Ereignis ist ein Kandidat für den Zerfall eines Higgs-Bosons in W-Bosonen, über den Prozess H→WW*→eνμν. Die fehlende transversale Energie wird durch die beiden Neutrinos verursacht, die den Detektor ohne Wechselwirkung verlassen.
Aktuelle Fragen und Ziele
Die zu erwartende große Datenmenge, entsprechend einer integrierten Luminosität von 100 fb-1, die bei der hohen Energie von 13 TeV am LHC bis Ende 2018 aufgezeichnet werden wird, erlaubt es die Vermessung des Higgs-Bosons mit hoher Präzision durchzuführen. Im Vordergrund unserer Forschung stehen die folgenden Themen:
- Präzise Vermessung der Higgs-Boson-Zerfälle in W-Bosonen;
- Klare Etablierung der Zerfälle des Higgs-Bosons in Tau-Leptonen und in Paare von b-Quarks.
- Präzise Bestimmung der Eigenschaften des Higgs-Bosons, insbesondere seiner Kopplungen an Bosonen und Fermionen und Suche nach möglichen Abweichungen vom Standardmodell. Um einen allgemeineren Zugang zur Bestimmung der Kopplungsstruktur zu erhalten, soll eine Interpretation auch im rahmen von Effektiven Feldtheorien durchgeführt werden.
- Suche nach weiteren Higgs-Bosonen, insbesondere von schweren neutralen Higgs-Bosonen Φ, die in Tau-Paare zerfallen,Φ→ττ. Eine Entdeckung eines oder mehrerer solcher Higgs-Bosons wäre ein direkter Beweis für Physik jenseits des Standardmodells
Mitarbeiter an der Higgs-Forschung:
Hanna Arnold, Daniel Büscher, Carsten Burgard, Phuong Dang, Giulia Gonella, Ralf Gugel, Prof. Karl Jakobs, Dr. Karsten Köneke, Dr. Susanne Kühn, Dr. Christian Weiser, Dr. Lei Zhang
Suche nach supersymmetrischen Teilchen
Supersymmetrie (kurz: SUSY) ist eine theoretische Erweiterung des Standardmodells (SM). SUSY bietet Erklärungen zu einigen Fragen, die im SM unbeantwortet bleiben, darunter:
Warum ist das Higgs-Boson (125 GeV/c2) soviel leichter als die Planck-Masse (~1019 GeV/c2)? In Quantenfeldtheorien sind für Teilchenmassen Strahlungs- und Schleifenkorrekturen zu beachten. Im SM sind Fermionen und Eichbosonen durch Symmetrien vor diesen Korrekturen geschützt, nicht jedoch das skalare Higgs-Boson. Ohne manuell eingefügte zusätzliche Terme, die die Korrekten sehr exakt ausgleichen (fine-tuning), wäre die Erwartung, dass die Higgs-Masse mit dem Quadrat der höchsten Energieskala der Theorie divergiert. Dies ist der Kern des sogenannten Hierarchie-Problems. Die für die Korrekturterme entscheidenden Kopplungen des Higgs-Boson sind umso stärker, je massiver ein Teilchen ist. Am wichtigsten ist es deswegen jene Korrekturterme, die durch das schwerste SM-Teilchen (das Top-Quark) verursacht werden, durch eine neue Symmetrie auszugleichen.
Sind elektromagnetische, schwache und starke Kraft als verschiedene Aspekte einer einzigen, vereinheitlichen Kraft zu begreifen? Im SM führt die Extrapolation der Kopplungskonstanten nicht zu einer Vereinheitlichung; die zusätzlichen Freiheitsgrade von SUSY machen dies aber möglich.
Was ist dunkle Materie? Es muss sich um eine massive, nur gering wechselwirkende, elektrisch ungeladene Teilchenart handeln; im SM kämen allenfalls Neutrinos in Frage, ihre Masse ist jedoch nicht ausreichend und Neutrinos können daher höchstens einen Teil der dunklen Materie erklären. Insbesondere können sie nicht die sogenannte kalte dunkle Materie darstellen, die beispielsweise zur Erklärung der Rotationskurven von Galaxien erforderlich ist.
Wirkungsquerschitte für die Produktion von Squarks der ersten und zweiten Generation (q), Gluinos (g) und Stop-Squarks (t) bei einer Schwerpunktsenergie von 13 TeV [arXiv:1407.5066 [hep-ph]]
SUSY sagt zu jedem SM-Teilchen ein Partnerteilchen voraus, und die Suche nach diesen Partnerteilchen ist zur Zeit einer der Forschungsschwerpunkte bei ATLAS. Eine besondere Bedeutung hat das Partnerteilchen des Top-Quarks, das sogenannte Top-Squark (kurz: Stop), da es erklären kann, warum die Higgs-Boson Masse stabil ist und nicht vom schwersten bisher bekanntesten Teilchen, dem Top-Quark (etwa 172,5 GeV/c2) bestimmt wird. Stops können auf weniger Arten produziert werden als andere Squarks oder auch Gluinos (die 8 Partnerteilchen der 8 Gluonen), was zu einem stark niedrigeren Wirkungsquerschnitt führt. Unter anderem daher sind momentane Ausschlussgrenzen auf Stops deutlich schwächer als auf andere Squarks und Gluinos, was Modelle mit Stop als leichtestem Squark, nahe an der elektroschwachen Energieskala, interessant macht. Das leichteste SUSY-Teilchen im minimalen supersymmetrischen SM (MSSM) ist das Neutralino, ein Mischzustand aus Partnerteilchen der neutralen, elektroschwachen Eichbosonen sowie der Higgs-Boson-Partnerteilchen. Da es nicht in leichtere SUSY-Teilchen zerfallen kann, ist es in den meisten SUSY-Modellen stabil und daher ein Kandidat für dunkle Materie. Es verlässt den Detektor unbemerkt, und kann nur über seinen fehlenden Beitrag zur Impulsbilanz nachgewiesen werden.
Unsere Arbeitsgruppe ist im Bereich SUSY aus den oben angerissenen Gründen für die im Juni 2015 gestartete Phase der neuen LHC Datennahmeperiode zunächst vor allem an der Suche nach der Paarproduktion von Stops interessiert.
Aktuelle Fragen und Ziele
Durch die von Beginn der zweiten Datennahmeperiode des LHC an von 8 auf 13 TeV erhöhte Schwerpunktsenergie wird schon mit geringeren Mengen an Kollisionsereignissen als im bei 8 TeV aufgezeichneten Datensatz (integrierte Luminosität von ~20 fb-1) eine Sensitivität auf SUSY jenseits bisheriger Erkenntnisse erreicht. Zusätzlich ist es geplant, die gesamte aufgezeichnete Datenmenge deutlich zu erhöhen (integrierte Luminosität von ~100 fb-1 bei 13 TeV). Dies sollte erlauben, die Frage nach einer “natürlichen” Lösung des Hierarchie-Problems durch SUSY weitgehend zu beantworten, bereitet aber die folgenden Herausforderungen:
Neuoptimierung aller Analysen auf die Chance einer Entdeckung von SUSY und bisher nicht erreichte Bereiche des SUSY-Phasenraums.
Durch typischerweise höhere betrachte Stop-Massen können die Stop-Zerfallsprodukte deutlich kollimierter auftreten, was die Identifikation von z.B. Teilchenjets die von einem B-Hadron stammen erschwert, als auch neue Methoden in der Rekonstruktion des Zerfallssystems und der Top-Quark Kandidaten nötig macht.
In den neu zugänglichen SUSY-Massenbereichen und nach Reoptimierung der Analysen verschiebt sich die Bedeutung der verschiedenen SM-Untergründe deutlich, was neue Methoden zur Untergrundunterdrückung als auch Bestimmung erforderlich macht.
Für eine maximale Aussagekraft des Gesamtbildes müssen bisherige “Korridore” in den Stop-Auschlussplots geschlossen werden, was neuartige Ansätze erfordert.
Mitarbeiter an den Supersymmetriesuchen
Prof. Karl Jakobs, Christian Lüdtke, Philipp Mogg, Dr. Kilian Rosbach, Dr. Frederik Rühr, Thorben Swirski, Vakhtang Tsiskaridze
Test des Standardmodells
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